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Mitleid und Mitgefühl: Eine Differenzierung

Aktualisiert: 21. Apr.

Ulrike von Bergmann-Korn
Ulrike von Bergmann-Korn


Die Fähigkeit, mitzuleiden und Mitgefühl zu empfinden, wird häufig in einem Atemzug mit Empathiefähigkeit genannt. Menschen, die über diese Eigenschaften verfügen, gelten als angenehm und werden als sozial anpassungsfähig sowie gesund eingestuft. In der heutigen Zeit begegnen wir vermehrt dem Phänomen der Hochsensibilität: Das Mitleiden mit der Welt — mit allem, was Mutter Erde, den Eltern, der Familie, den Mitmenschen, Tieren, Pflanzen und dem Weltraum angetan wird — scheint zuzunehmen. Viele flüchten sich aufgrund dieser nicht aushaltbaren Gefühle in Trancezustände, Drogen oder andere Ablenkungen, um den tiefen Schmerz, den sie für andere empfinden, in sich selbst zu dämpfen.

Hierbei ist es wichtig, einen entscheidenden und subtilen Unterschied zwischen zwei speziellen Qualitäten zu erkennen, den Bert Hellinger, der Begründer der systemischen Familienaufstellung, in die Begriffe Mitgefühl und Mitleid unterteilt. Diese Differenzierung ist für mich bedeutend, denn sie birgt einen wertvollen Schatz an Erkenntnissen über Kraftgewinn und Kraftverlust.

 

Mitgefühl: Diese Qualität beschreibt die Fähigkeit, mit einer Person in Resonanz zu gehen, ohne sich in ihrem Schmerz zu verlieren. Es handelt sich um ein wertvolles menschliches Vermögen, die Gefühle und Erfahrungen eines anderen nachzuvollziehen, während man emotional stabil bleibt. Mitgefühl basiert auf Nähe, Verständnis, Akzeptanz und Liebe. Es ermöglicht emotionale Unterstützung, ohne das eigene Zentrum zu verlassen. Dem Leid der anderen Person wird mit Respekt und Achtung begegnet; man lässt das Leid bei der betroffenen Person und nimmt nichts davon in sich auf.

 

Mitleid: In diesem Kontext wird Mitleid als eine Qualität beschrieben, bei der man über die eigenen Grenzen hinweg und über die Grenze der leidenden Person hinaus in das Leid der anderen Person hineinerlebt. Diese Form des Mitempfindens wird der leidenden Person oft nicht gerecht. In unserem Unterbewusstsein kann sich das Gefühl verankern, dass unser Mitleid das Leiden der anderen verringert und ihnen das Gefühl der Solidarität gibt. Häufig opfern wir in direktem Mitleid unser eigenes Leben in Gesundheit, Glück und Fülle. In Bezug auf unsere Autonomie und Individualität ist dies eine unangemessene Einmischung, insbesondere wenn wir nicht eingeladen wurden.

·      Dadurch verlassen wir unsere Verantwortung für das eigene Sein,

·      blockieren möglicherweise die Wege, die eine Person aus ihrem Leid finden könnte, und

·      verhindern damit ihre Heilung.

Ich durfte in meiner Ausbildung in Systemaufstellungen dazu eine eindrückliche Erfahrung machen. Eine Teilnehmerin unseres Kurses stieß auf einen Straßenbahnunfall, bei dem die Freundin ihrer Tochter verunglückt war. Sie war völlig im Schock, und nach ihrer Erzählung waren auch wir Teilnehmenden betroffen. Marianne Franke-Gricksch, eine meiner Ausbilderinnen, wählte für das verletzte Kind eine Stellvertreterin und bat sie, sich in der Mitte des Raumes aufzustellen. Dann stellten wir Gruppenmitglieder uns um das Kind herum mit unseren augenblicklichen Gefühlen der Betroffenheit und des Mitleids. Die Stellvertreterin in der Mitte verlor ihre Kraft und ging zu Boden. Die Ausbilderin bat uns, uns vor dem Kind zu verneigen, das Leid zu sehen und es in seinem Schicksal zu achten. Die Stellvertreterin des Kindes richtete sich daraufhin auf, atmete durch und fand mit neuer Lebensenergie in ihre Würde und Kraft zurück.

 

Zusammenfassend beschreibe ich aus dieser Erfahrung Mitgefühl als eine gesunde, unterstützende Verbindung, während Mitleid für mich und die leidende Person eine belastende Haltung darstellt — durchaus aus Liebe und dem Bedürfnis zu helfen heraus.

Übungen dazu:

Ich lade dich zu einer kleinen Vorstellungsübung ein, die dir möglicherweise einen Einblick zu diesem Phänomen gewährt:

Erinnere dich an eine für dich schwierige Lebenssituation (Vorsicht, nichts, das dich schwer traumatisiert hat, ohne professionelle Begleitung). Stelle dich in die Mitte deines Raumes und verbinde dich ganz mit der Erinnerung an diese Situation. Fühle dabei deine Körperhaltung und Kraft in dieser Situation. Stelle dir dann vor, Personen stehen mit einer bemitleidenden Haltung um dich herum. Auch ihnen geht es fast so schlecht wie dir, aufgrund deines Leidens. Spüre nun, wie du den Unterschied in deiner Haltung und Kraft erlebst.

Stelle dir weiter vor, diese Personen würden sich vor dir verneigen. Sie ließen über diese Körperhaltung das von dir Übernommene zu dir zurückfließen. Sie begegnen dir mit einer Haltung von Achtung für das schwere Schicksal oder das Leiden, das zu dir gehört. Sie könnten durch ein Mitfühlen eine Ahnung für das, was du zu tragen hast, bekommen, aber sie muten es dir zu und trauen dir zu, es zu schaffen, mit Achtung.

Spüre nun, wie du den Unterschied in deiner Haltung und Kraft erlebst. Solltest du zu ähnlichen Erkenntnissen kommen wie ich, hier noch eine weitere Übung für den eigenen Kraftzuwachs: Du kannst diese Übung in verschiedenen Situationen deines Lebens durchspüren und die Version mit der Achtung als neues Muster installieren.

Für Menschen, die dir am Herzen liegen: Für sie ist es möglich, mit dieser Haltung die kräftezehrende Energie von Mitleid zurückzunehmen und ihnen und ihrem Leid gegenüber in die neue Haltung zu kommen von:

·      Verneigung: Ich lasse das, was ihnen gehört, auch bei ihnen (ein körperlicher Prozess).

·      Haltung von Zumutung: Ich mute dir dein Leid zu.

·      Haltung von Achtung:  Ich achte dich mit dem Schweren, das du gerade durchmachst.

Mit dieser Perspektive können wir möglicherweise lernen, unsere Beziehungen zu anderen heilsamer zu gestalten und uns selbst nicht aus den Augen zu verlieren.

Ulrike von Bergmann-Korn

 



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